Kinder und Alkohol. Eigentlich sollte es hier keinen Zusammenhang geben. Und dennoch erinnert sich fast jeder an Momente in der Kindheit, die Erwachsene im Bekannten- und Verwandtenkreis mit „Alkoholgeschichten“ in Verbindung bringen. Darunter gibt es nicht wenige, für die das Thema sehr nahe und ausgeprägt war, wie in meinem Fall.
Ich wuchs in einem lebhaften Familienhaus auf, zusammen mit Großeltern, Tante, Onkel und 6 weiteren Kindern. Es war ein Haus in einer provinziellen Kleinstadt, deren Bewohner viele Klischees bedienten um das sonst so beschauliche Idyll immer wieder in Frage zu stellen. Ein Autor wie Steven King hätte hier bestimmt eine großartige Kleinstadt-Vorlage für einen noch großartigeren Roman gefunden.
Nicht nur, dass meine Großeltern Vita Buerlecithin (>16% Alkohol) im guten Glauben an die gesundheitsfördernde Wirkung uns Kindern verabreichten (ich war z.B. erst 5 Jahre alt). Meine Großmutter hatte auch Eierlikör lange nicht wirklich als „echten“ Alkohol betrachtet und es hat sie nicht gestört oder überrascht, wenn wir Kinder den Likör regelmäßig „naschten“. Besonders verstörend fühlen sich hingegen einige Erinnerungen an meinen Onkel bis heute an. Er war schwer alkoholkrank. Seinem Suchtverlangen war er so sehr verfallen, dass er bei uns Kindern das Taschengeld oder den Inhalt der Spardose erbettelte um sich heimlich zu versorgen. Obwohl meine Tante ihn täglich filzte und ihm jedes Bargeld abzunehmen versuchte, schaffte er es trotzdem irgendwie sich zum hochfrequenten Sturztrinker mit regelmäßigen Krankenhausaufenthalten zu entwickeln. Nach dem x-ten Klinikaufenthalt kam mit 52 Jahren das nicht allzu überraschende Ende als Folge eines alkoholbedingtem Organversagens.
Bis dahin spielten sich wegen meines Onkels immer wieder kleinere und größere Dramen ab. Meine Tante schenkte sich nichts beim Kampf gegen den Alkoholdrang meines Onkels. Damals galt Alkoholsucht eben noch nicht als Krankheit. Auf dem Land war Alkoholismus damals zudem vielmehr ein charakterliches Totalversagen, das aus den Untiefen der Hölle zu kommen schien. Alkoholkranke lösten damals bei einigen Menschen (noch) nicht unbedingt das Bedürfnis aus zu helfen, sondern eher das Bedürfnis in einen Krieg zu ziehen.
Vielleicht beschuldigte ihn meine Tante auch deshalb ständig, schuld zu sein an der schweren Polioerkrankung (Kinderlähmung) meines Cousins. Für sie stand das zeitlebens unverrückbar fest. Dass die beiden später geborenen Töchter uneingeschränkt gesund waren, spielte für sie dabei keine Rolle. Ich erinnere mich auch sehr deutlich daran, dass mir mein Onkel oft leid tat, weil er so viel heulte und so oft im Krankenhaus war. Und wenn er zu Hause war, dann dauerte nie lange, bis ihn meine Tante wieder in seine kleine Werkstatt zur Ausnüchterung verfrachtete. Dort schrie er manchmal stundenlang betrunken und verzweifelt, schlug und trommelte an die Tür, Ich bekam das meisten ganz nah mit. Mein Kinderzimmer grenzte an seine Werkstatt an. Bilder und Töne aus diesen Tagen und Nächten spuken bis heute wie ein fernes Gewitter meinem Kopf umher. Dabei hatte ich noch Glück. Niemand schrie mich an oder bedrohte oder schlug mich. Ich war eigentlich fast nur wie eine Art Zuschauer mit Backstage Karten.
Trotzdem: Kinder und Alkohol. Das darf nicht zusammenkommen, ganz gleich auf welche Weise. Weder als alkoholisches Früherlebnis, noch als verstörende Erinnerungen und Beobachtungen.
Mr.Brain